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Standortvorteil ÖPNV
Foto: marco stepniak

Standortvorteil ÖPNV

Lesedauer: ca. 4 Min. | Text: Jakob Surkemper

Stadtentwicklung hat auch mit ÖPNV zu tun, der den Autoverkehr reduzieren könnte. Wie es um die Verkehrs- wende bestellt ist, darüber haben wir mit Vestische- Geschäftsführer Martin Schmidt (63) gesprochen.

Herr Schmidt, Sie gehen Ende 2025 in den Ruhestand, nach fast einem Vierteljahrhundert. Welche Bilanz ziehen Sie?

Martin Schmidt: Wir haben die Verkehrswende gemeinsam mit Politik, Aufsichtsrat und Gesellschaftern auf den Weg gebracht, sichtbar in unserem Masterplan von 2022. Darin haben wir das ehrgeizige Ziel formuliert, bis 2030 unsere jährlichen Fahrgastzahlen von 50 auf 70 Millionen zu steigern, indem wir das Angebot verbessern, Betriebszeiten verlängern und Takte verdichten. Denn keiner steigt auf den ÖPNV um, nur weil wir mit E-Bussen unterwegs sind. Die Antriebswende ist für uns erst der zweite Schritt, den wir gleichwohl mit dem Test von Brennstoffzellenbussen bereits angehen. 2024 hatten wir mit 19,4 Millionen Kilometern und 53,8 Millionen beförderten Fahrgästen trotz Stabilisierungsfahrplans das erfolgreichste Jahr seit 2007 und lagen 7,6 Prozentpunkte über dem Niveau von 2019 vor Corona.

Wo verbessern Sie das Angebot konkret?

Geplant sind über zwei Millionen Kilometer mehr Jahresleistung in den nächsten fünf Jahren. Dazu gehören unter anderem drei weitere X-Bus-Linien. Zwei haben wir bereits jeweils innerhalb etwa eines Jahres auf die Straße gebracht: den X13 und X42 (s. S. 20/21). Das waren die ersten im Verkehrs­ verbund Rhein-Ruhr, und sie waren richtungsweisend.

Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen?

Wir evaluieren die Linien derzeit, die Zahlen sollen bis Juli vorliegen. Die Tendenz ist aber sehr positiv. Sie werden gut angenommen und haben das Ziel erreicht, schienenferne Orte wie zum Beispiel Datteln oder Waltrop an den regionalen Bahnverkehr anzuschließen.

Der Kreis hat jetzt auch grünes Licht für die Linien X10 und X11 (s. auch S. 20/21) gegeben. Wann könnten die fahren?

Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr muss hierzu noch Gespräche mit dem Land führen, wie die finanzielle Förderung zukünftig aussehen wird. Der Betriebskostenzuschuss des Landes von 50 Cent pro Kilo- meter gilt bisher nur für die ersten beiden Linien. Daher gibt es derzeit noch keinen konkreten Fahrplan, wann die neuen Linien starten. aber 161 Fahrer eingestellt – das ist ein Novum – und haben eine eigene Fahrschule gegründet, um die Hürden für den Busführerschein zu senken. Wir sind jetzt bei etwas mehr als 850 Fahrerinnen und Fahrern. Seit Januar fahren wir wieder im Regelfahrplan. Damit sind wir auch in der Lage, das Angebot auszuweiten.

Sie sind also auf die Finanzierung vom Land angewiesen?

Ja, und vom Bund. Im Kreis und den Städten ist man sich einig. Der Bund hat zuletzt die Fahrzeugförderung für alternative Antriebe wie Batterie- und Brennstoffzellenbusse komplett eingestellt. Auch vom Land gibt es derzeit keine Förderungen für Fahrzeuge. Das ist problematisch, da wir bis 2030 mindestens 43 weitere Wasserstoffbusse anschaffen wollen, die rund dreimal so viel kosten wie Dieselfahrzeuge.

Jede Busfahrt spart 50 private Pkw- Fahrten, wie sie im Masterplan vorrechnen. Wäre es nicht sinnvoller, statt eines H2- drei Dieselbusse zu kaufen?

Die europäische Clean-Vehicles-Richtlinie zwingt uns, ein Mindestmaß an emissionsfreien Bussen anzuschaffen. Ab nächstem Jahr müssen 65 Prozent der neuen Busse „sauber“ sein, davon die Hälfte komplett emissionsfrei. „Sauber“ kann auch durch synthetische Kraftstoffe erreicht werden. Seit 2022 erfüllen das bereits all unsere Neufahrzeuge; das sind derzeit 100 von insgesamt 270 Bussen. „Emissionsfrei“ schaffen aber nur Wasserstoff- oder Batteriefahrzeuge. Ab 2030 werden dann 90 Prozent und ab 2035 alle neuen Stadtbusse emissionsfrei sein, weil die Fahrzeughersteller diese Norm einhalten müssen. Die Batteriefahr- zeuge haben sich bei uns in der Praxis leider nicht bewährt, weil ihre Reichweite zu gering ist und auch ihre Verfügbarkeit zuletzt bei nur 42 Prozent lag. Bleiben also nur Wasserstoffbusse. Wir haben seit Sommer 2024 fünf im Einsatz und gute Erfahrungen gemacht, fünf weitere erwarten wir in den nächsten Wochen. Die wurden vom Bund noch mit 80 Prozent der Mehrkosten gefördert. Für alle weiteren ist die Finanzierung aber unklar.

Das heißt, im schlimmsten Fall geht die Antriebswende zu Lasten des Angebots?

Das kann passieren und ist in manchen Städten bereits der Fall. Das ist tragisch, und deshalb brauchen wir Verlässlichkeit bei der Finanzierung. Wenn wir gezwungen sind, teurere Fahrzeuge zu kaufen, und wir müssen das gegenfinanzieren, indem wir das Angebot kürzen, haben wir nichts erreicht – im Gegenteil.

Wie sieht es beim Personal aus?

Das war und bleibt eine Herausforderung. Im vergangenen Jahr mussten wir im Stabilisierungsfahrplan fahren. Wir haben 2024 aber 161 Fahrer eingestellt – das ist ein Novum – und haben eine eigene Fahrschule gegründet, um die Hürden für den Busführer- schein zu senken. Wir sind jetzt bei etwas mehr als 850 Fahrerinnen und Fahrern. Seit Januar fahren wir wieder im Regelfahrplan. Damit sind wir auch in der Lage, das Angebot auszuweiten.

Welches sind da die nächsten Schritte?

Zum Fahrplanwechsel am 27. August setzen wir zum Beispiel den 30-Minuten-Takt auf den Linien 214 und 219 um. Taktverdichtungen bzw. -ausweitungen gibt es auch auf den Linien 223, 224 und 238. Damit erhöhen wir die jährliche Fahrleistung um 246.000 Kilometer auf 20,6 Millionen. Auch für die Linien 222 und 255 sind Takterhöhungen auf den 15-Minuten-Takt geplant, aber noch nicht terminiert.

Was ist aus den Plänen geworden, den Busverkehr z. B. durch eigene Busspuren beschleunigen zu wollen?

Dafür brauchen wir allerdings auch den Willen in den Kommunen. Seit September 2024 haben wir versuchsweise eine eigene Busspur auf einem Teilstück zwischen Recklinghausen und Herten für die Linien SB49 und 249. Beim SB49 konnten wir dadurch Verspätungen um 12,5 Prozent reduzieren, ohne den Autoverkehr zu verlangsamen. Wir hoffen, dass wir die Kommunen damit überzeugen können, sodass dieses Beispiel Schule macht. Wer die Verkehrswende will und ernst nimmt, muss Straßenraum zugunsten des ÖPNV neu aufteilen. Dazu braucht es ein harmonisches Zusammenspiel von Straßenbetrieb NRW, dem Kreis und den Kommunen – und den Mut, auch gegen das Auto zu agieren.

So wie im französischen Metz, das innerhalb kurzer Zeit ein Netz neuer Buslinien mit eigenen Spuren realisiert hat.

Metz hat gezeigt: Verkehrswende kann ein Gewinner-Thema sein, auch wenn man erst mal unpopuläre Entscheidungen treffen muss. In Metz wurde in fünf Jahren eine Fahrgaststeigerung von 60 Prozent erreicht. Heute ist es in Metz für Immobilien ein Standortvorteil, an einer dieser Linien zu liegen, und der Bürgermeister, der das umsetzte, wurde wiedergewählt.

Haben Sie eine Vision für den ÖPNV im Vest nach 2030?

Wenn wir unseren Masterplan bis 2030 umsetzen, haben wir viel erreicht. Darüber hinaus wäre meine Hoffnung, dass wir irgendwann flächendeckend eigene Busspuren haben wie in Metz. Als regionales Unternehmen ohne Schienen überzeugen wir mit einem guten Mix aus Express-, Schnell- und Stadtbussen. Dafür braucht es zukünftig Trassen, die dann auch auf autonomes Fahren umgestellt werden könnten.

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