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Ein „Volkshaus“ zur Entspannung
Theater Marl, ca. 1955. Foto: Stadtarchiv Marl

Ein „Volkshaus“ zur Entspannung

Lesedauer: ca. 3 Min. | Text: Gert Eiben

Vor 70 Jahren entschied sich Marl für ein eigenes Theater.

Wenn im Herbst traditionell die Theatersaison beginnt, kann sich Marl wieder im großstädtischen Flair sonnen: Die Stadt hat ein eigenes Theater, weil seit 70 Jahren Kultur hier ganz groß geschrieben wird. Heute ist das ein „weicher Standortfaktor“, damals war das ein Streit zwischen Sozialisten und Kommunisten, ob man bereits Geld für ein Theater ausgeben soll oder erst einmal mehr Wohnungen gebaut werden müssen.

Bürgermeister Rudi Heiland wollte der Diskussion aus dem Weg gehen und bat im Frühjahr 1950 den Hauptausschuss, möglichst wenig über ein neues Projekt zu sprechen: Ein Privatmann aus Witten wolle im Straßendreieck Brassert-/Berg-/ Hervester Straße, der „Vogelstange“, einen Theaterneubau errichten. Die dortigen Kleingärtner sollten keine besonderen Leistungen mehr einbringen. Mitte August war Spatenstich, drei Monate später brauchte der Bauherr, die Hermann Mayer KG aus Radolfzell, ein 200.000-DM-Darlehn von der Stadt. Der Bürgermeister drängte: Marl braucht ein Theater. Städte wie Bochum, Essen oder Gelsenkirchen würden sogar Millionen dafür ausgeben. Die DKP warnt vor einem „großen Klotz am Bein“ der Stadt. Die SPD fordert Mut. Die CDU will eine öffentliche Diskussion. Der Bürgermeister plädiert: Menschen, die eng wohnen, haben ein Anrecht darauf, ein oder zwei Stunden losgelöst vom Druck des Lebens Entspannung im kulturellen Leben zu finden.

Theater Marl 1955
Das Theater Marl um 1955. | Foto: Stadtarchiv Marl


Bereits 1918/19 bewiesen die Gründungen mehrerer Theatervereine (Frohsinn, Vergissmeinnicht, Heiterkeit, Gemütlichkeit) ein Interesse. 1926 bot die Gemeinde erstmals eigene Kulturveranstaltungen an. Das erste Konzert im Juli musste wegen des schwachen Vorverkaufs abgesagt werden, zur ersten Theateraufführung, Calderons Lustspiel „Dame Kobold“, im November im Lindenhof in Alt-Marl kamen 523 Besucher. Nach dem Krieg geht es im Januar 1946 mit der Gründung des „Kulturrings des Amtes Marl“ und Vorstellungen im Lindenhof weiter.

Die Realisierung des Neubaus läuft nicht gut. Der ausgesuchte Platz stellt sich als schlecht tragfähige Halden­kippe heraus, Anfang 1951 laufen die Preise davon. Weil Marl nicht für die Bauerlaubnis zuständig war, macht nun das Kreisbauamt teure Zusatzauflagen, die sich später teilweise als überflüssig erweisen. Es gibt weitere Umprojektierungen, bis im Juli 1951 der Bauherr aufgibt und die Stadt den Rohbau übernimmt, um daraus ein „Volkshaus der Stadt Marl“ zu machen (Theater und Lichtspieltheater), wofür weitere Geldmittel nötig sind. Am 6. Februar 1953 wird das Theater mit Beethovens Oper „Fidelio“ feierlich eröffnet. Der Bürgermeister schwärmt, in der Zeit der Wohnungsnot werde mit einem Theater „im höheren Sinne eine Wohnung für alle“ geschaffen. Die Recklinghäuser Zeitung lobt einen „Prachtbau aus Stein, Glas und Stahl, und doch schlicht und eindrucksvoll“. Tags darauf hat das Haus als Kino Premiere mit dem Heimat-Farbfilm „Am Brunnen vor dem Tore“. „Nur die besten Filme“ versprach die Ufa im Pachtvertrag, genauso wie für Recklinghausen. Weil die Politiker davon ausgehen, dass das Volkshaus auf lange Sicht mehr Kino als Theater ist, bekommt die Bestuhlung einen Kunststoffbezug und keinen Stoff. Das Haus hat 956 Sitzplätze und kostet am Ende 1,9 Mio. Mark. Das sei es auch wert, rechtfertigt sich der Oberbaurat vor dem Rat für erhebliche Kostenüberschreitungen. Leider habe man den Finanzbedarf nicht rechtzeitig erkannt. Das Protokoll verzeichnet den Kommentar Heilands: „Sie haben den Beruf verfehlt, Sie hätten Bademeister werden sollen.“ Nicht aufgeschrieben ist die Fortsetzung: „Sie können so gut schwimmen.“ Das Theater wird ein Erfolg, im ersten Spieljahr werden 2.000 Vormieter gezählt. Marls eigenes Orchester, die Philharmonia Hungarica, spielt vor ausverkauftem Haus. Bundesweit beachtet lädt Marl bereits im April 1959 das (Ost-)Berliner Ensemble ein. Als die CDU Ende 1961 verlangt, deren Vorstellungen wieder abzusetzen, gibt es bereits ein generelles Ausreise-Verbot aus der „SBZ“. Vermietet wird das Theater auch, aber: „Lustbar­keiten nichtstädtischer Organisationen sind nicht gestattet“. Ein gläserner Tunnel verbindet das Theater mit einer neuen Gaststätte im Oktober 1960. Ihr Name wird wieder mit einem Wett­bewerb ermittelt. Aus 30 Vorschlägen von Diamant bis Blaue Muschel, von Femina bis The-Re-Ma, von Trabant bis Medaillon entscheidet sich der Rat für Letzteres. 1997 wird sie wieder abgerissen. Das Theater wird 1998 saniert, nicht zuletzt, weil es für die Verleihung des Grimme-Preises gebraucht wird. Auch das ein Marler Kultur-Highlight.

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